Mittwoch, 13. Mai 2020

Wer denkt an das Opfer?

Vielleicht muss man in die Vergangenheit blicken, um Erklärungen zu finden.Bereits in den 80er Jahren hatte es in Lichtenberg missbräuchliche Vorfälle gegeben. Damals hatte der evangelische Priester Schulze mehrere Jugendliche missbraucht. Die Missbrauchsserie wurde indes nicht öffentlich aufgearbeitet. Laut dem Münchner Abendblatt schwiegen die Eltern aus Scham. Damals wurden die Lichtenberger aktiv durch den Missbrauchstäter gespaltet, er schloss Jugendliche aus, verbreitete Gerüchte und sorgte dafür, dass Freundschaften zerbrachen. Die Schäden an den Opfern und in der Bevölkerung eines kleinen Ortes können Jahrzehnte lang nachwirken.

Mitte der 90er begann eine weitere Missbrauchsserie mit vielen Opfern, die lange nicht ernstgenommen oder auch aus Scham verschwiegen wurde. Erst mit dem Verschwinden von Peggy Knobloch kamen nach und nach immer mehr Fälle ans Tageslicht, nachdem das Ganze schon mindestens 6 Jahre lang lief und als harmlos abgetan worden war.

"Es liegt ein Deckmantel über dem Dorf, kann man fast sagen. Viele Leute haben das einfach nicht angezeigt, das Verhalten von Ulvi. Ihnen wurde erst durch die Ermittlungen um Peggy die Augen geöffnet und der ein oder andere hat sich dann doch an die Polizei gewandt und hat das gemeldet."
"Also eine Dunkelziffer existiert mit Sicherheit. Also wir schätzen, dass bestimmt 50 Fälle nicht angezeigt worden sind."

Klaus Bernhardt, Sprecher Polizeidirektion Hof
Quelle: SWR, Report aus Mainz, 9. Dezember 2002




Wie "die Lichtenberger" über den Fall denken erfährt die Öffentlichkeit von Anfang an. Allerdings ist es ein diffuses Bild, das sich aus den Berichten ergibt. Die lauteste Farbgebung wird am besten wiedergegeben durch die Repräsentanten von Lichtenberg, die über die Jahre hinweg gerne gesehene Interviewpartner waren.
Hier unsere kleine Sammlung an öffentlichen Statements der Bürgermeister von Lichtenberg zum Fall von Peggy:

Bürgermeister Dieter Köhler
(Amtszeit bis 2004)
„Der Super-GAU wäre es, wenn tatsächlich ein Lichtenberger Peggy umgebracht hätte”
Quelle: Süddeutsche Zeitung, 2. Mai 2002

"Die Hoffnung hat lange gedauert, dass die Peggy nochmal auftaucht. Nachdem das nicht der Fall ist und nachdem die Zeit vergeht, geht das Leben auch weiter. Die Stadt Lichtenberg kann jetzt nicht jahrzehntelang oder die Lichtenberger mit Sack und Asche mit Sack und Asche rumlaufen und immer nur an das verschwundene Mädchen denken( ...) Vom Gefühl her bin ich immer noch der Meinung, dass der Ulvi das gar nicht gewesen sein kann. (...) Es gab sicher Fälle, wo der Ulvi sich entblößt hat. Das war bekannt. Bei den meisten Fällen werden die anderen drüber gelacht haben, die andern Kinder, so zwölf-/dreizehn-jährige Jungen. ... Also Entblößer gab's immer und die werden -soviel ich wei, ich bin ja kein Fachmann- aber die werden wahrscheinlich in den seltensten Fällen dann zu Mördern."
Quelle: SWR, Report aus Mainz, 9. Dezember 2002
Bürgermeister Hans Denzler
(Amtszeit 2004 - 2005)
"Große Teile der Bevölkerung sind der Meinung, dass es der Ulvi nicht gewesen ist"
Quelle: Spiegel, 26. März 2005
Bürgermeisterin Elke Beyer
(Amtszeit 2005 - 2014)
„Wir stellen nach wie vor infrage, dass Ulvi K. wirklich der Täter ist“
Quelle: Nürnberger Zeitung, 6. Mai 2011
Bürgermeister Holger Knüppel
(Amtszeit 2014 - 2020)
„Immer wieder wenn neue Ergebnisse waren schlug natürlich auch die Presse wieder auf und in dem Moment hat's die Bürger natürlich aus dem Alltag gerissen und wieder mitgenommen. Und das war natürlich wieder so n Moment wo der Friedhof auf den Kopf gestellt wurde, wo man gesagt hat, das Kind ist da mit irgendjemand anders beerigt worden. Da gings wieder von vorne los. Und das waren immer so Wellen, die die Lichtenberger aushalten mussten.“
Quelle: mdr, Die Spur der Täter, 27. März 2019
Viele verharmlosenden Aussagen über die Missbräuche und klare Zweifel am widerrufenen Mordgeständnis. 2017 folgte sogar eine Unterschriftenaktion einiger Lichtenberger Bürger, darunter Gemeinderäte und Bürgermeister, gegen negative Schlagzeilen über Lichtenberg und gegen angebliche Ermittlungsfehler der Behörden. Man fühlte sich desinformiert und falsch dargestellt. Die 'Gegenseite' hingegen berichtet von einer Mauer des Schweigens, von wenig Hilfsbereitschaft und Kooperation. Zwei Missbrauchsserien, ein Mord an einem neunjährigen Mädchen und beide einschneidenden Phasen finden keinen Eingang in die Ortschronik von Lichtenberg. Vielleicht ist das nur konsequent. Vielleicht aber auch der Wunsch nach Vergessen.

Eine Frage aber bleibt:
Wer denkt an das Mädchen?

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