Mittwoch, 28. April 2021

Buchkritik Teil 6: Gudrun Rödel "Weggesperrt" 2021

 

Der Prozess

Ab Seite 73 wird der Prozess 2003-2004 „dokumentiert“.

Auftakt bildet ein Abschnitt mit persönlich-freundschaftlicher Note, in dem Norbert R., einem Weggefährten der Autorin besonderer Mut attestiert wird, weil er „damals“ (genauer sind die Zeitangaben nicht) ein T-Shirt mit der Aufschrift „Bestechlich und Korrupt“ trug. Das Beweisfoto wurde gleich mitgeliefert, selbstredend ohne Beschriftung und Nennung des Fotografen.

Im zweiten Abschnitt auf derselben Seite geht es um eine kollektive Empörung über ein „Pauschalurteil über alle Bürger, die in Lichtenberg lebten“. Zugrunde liegt ein vermeintlicher Satz des Verteidigers von Frau Knobloch. Er hatte von einer „Gefühlskälte, die an diesem Ort immer wieder sichtbar wurde, wie tief muss man sinken, um eine solche Toleranzschwelle zu erreichen“ gesprochen. Unklar bleibt, bei welcher Gelegenheit und in welchem Zusammenhang dieser Satz fiel. Die Autorin jedenfalls spricht von einer Hetzkampagne und unterstellt dem Anwalt, „nie die Akten gelesen, sondern einfach nur in das Horn der Staatsanwaltschaft „geblasen“ zu haben".

 

Seite 74 beginnt mit einer Reihe an Vorwürfen an das Gericht. So habe dieses allein Peggys Mutter geglaubt und nicht den Zeugen, die wahrheitsgemäss ausgesagt hätten. Das Gericht hätte nichts hinterfragt oder in Zweifel gezogen. Das Gericht hätte überdies bewusst nicht alle Entlastungszeugen eingeladen. Als Beispiel einer „Beweismittel-Unterschlagung“ nennt die Autorin den Roller von Peggy, der im Gericht nicht gezeigt wurde. An ihm habe sich ein Widerspruch in den Aussagen eines Zeugen und der Mutter von Peggy ergeben und nur weil der Roller nicht vorgezeigt wurde, habe man die Aussage des Zeugen für „nicht glaubhaft“ erklärt.

 

Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 75
 
 


Den monatelangen Prozess handelt das Buch auf ganzen 3 Seiten ab. Kein Wort über die mitverhandelten Missbräuche, kein Wort über die weggebrochenen Alibizeugen, kein Wort über die überraschende Entscheidung von Ulvi K.‘s Familie, nicht mehr vor Gericht auszusagen, nachdem sich Widersprüche ergeben haben.

 

Urteil/Zeugenaussagen/Motiv

Die nächsten Kapitel werden aufgrund desselben Tenors hier zusammengefasst.

Die Autorin zeigt im folgenden Schnelldurchlauf ihre Kritikpunkte am Urteil auf:

  • 65 Zeugen, die Ulvi K. zu dieser Zeit nicht auf der Bank am Henri-Marteau-Platz haben sitzen sehen
  •  Widerspruch, weil Ulvi K. eine ganz andere Rentnerbank erwähnt hatte, ein ganzes Stück weit weg am Sieleinsweg
  • Zeitliche Diskrepanzen, die sich aus der privaten Auswertung des Fahrtenschreibers des Schulbusses ergaben
  • Das Ignorieren von Zeugen, die Peggy am Nachmittag und Abend noch gesehen haben wollen
  • Das Ignorieren von einer jüngeren Freundin, die Peggys Mutter erwähnt habe und die die Autorin mit dem Mädchen gleichsetzt, das einige Kinder am Nachmittag des Verschwindens in Peggys Begleitung gesehen haben wollen
  • Vernehmungen in Abwesenheit des Rechtsbeistandes
  • Übertölpelnde Vernehmungsmethoden bei den Befragungen von Ulvi K.
  • Zustandekommen der „Videoaufzeichnung des angeblichen Tathergangs“ ohne Zustimmung des Verteidigers
  •  Das Ignorieren von Anhaltspunkten, die auf Peggys eigene Familie hinwiesen, die Grund gehabt hätte, aufgrund eines Missbrauchs verschwinden zu lassen
  • Kein Beweis für einen Sexuellen Missbrauch Peggys am 3. Mai 2001 durch Ulvi K.
  • Zufügen von körperlichem Schmerz im Bereich der Schulter durch einen Ermittler
  • Anschreien des Verdächtigen während der Vernehmung
  • Vernehmung während der Fahrt zum Verhör und damit ohne anwesenden Rechtsbeistand
  • Berücksichtigung der Aussagen von Peggys Mutter und Frau L., beide unglaubwürdig
  • „enge Kooperation [Anm.: der Zeuginnen] mit den Ermittlungsbeamten der Soko II“
  •  Beeinflussung des Kinderzeugen Florian L. durch die Ermittler

 

Gerade der letzte Zeuge nimmt viel Raum in dem Kapitel ein. Florians Mutter wird als skrupellos und mit blindem Belastungseifer hingestellt:

 

Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 87

Es geht weiter über eine Therapie des Jungens, die nichts mit dem Fall Peggy, dafür aber mit innerfamiliären Problemen zu tun hatte. Zur Opferrente, die er zeitweise vom Weissen Ring bekam, sagt die Autorin:

Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 90

Soweit die Kapitel, die den Sachstand von 2004 betreffen. Die inhaltliche und chronologische Folge wird dem Leser nicht klar, denn nach den Kapiteln „Prozess“ und „Urteil“ werden erst die inhaltlichen (vermeintlichen) Fehler von beidem benannt.

Vieles wird in diesen 4 Kapiteln nicht erwähnt. Jegliches belastende Element (denn immerhin erging ein Urteil wegen Mordes) fehlt.

Dass es 27 Verhandlungstage waren, in denen das Gericht nach der Wahrheit suchte und etliche Zeugen und Gutachter anhörte, wird verschwiegen. Ebenso jedes Detail aus der Verhandlung und nicht einmal der genaue Wortlaut der Verurteilung wird genannt. Dass Ulvi K. wegen Mordes verurteilt wurde bleibt unerwähnt. Ebenso die gerichtliche Feststellung einer ganzen Reihe von sexuellen Übergriffen gegen mehrere Kinder und gegen Peggy, die wegen nicht auszuschliessender Schuldunfähigkeit von Ulvi K. in diesem Bereich in einen diesbezüglichen Freispruch mündete.

Wiederaufnahmeverfahren

Einige Jahre, die zwischen dem 1. Urteil und dem Bestreben um eine Wiederaufnahme des Verfahrens liegen, werden nun übersprungen.

 

Die Autorin spricht aus ihrer persönlichen Warte an, dass die Anwaltskosten nur für das Wiederaufnahmeverfahren und nicht für das vorgerichtliche Verfahren übernommen wurden. Um diese Kosten zu stemmen sei sie betteln gegangen.

Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 92

Aus der folgenden Episode sollte sich dann tatsächlich der 1 von 2 Gründen für die spätere Wiederaufnahme ergeben.

Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 92

Im Podcast von Antenne Bayern zu dem Fall präzisierte RA Euler, dass er dem Patienten Peter H. eine Nachricht hinterliess, sinngemäss sollte es sich für Herrn H. lohnen, würde er sich bei RA Euler melden.

Genau so trat es auch ein: Peter H. gab in einer „eidesstattlichen Versicherung“ an, dass er zu seinen belastenden Aussagen gegen Ulvi K. animiert wurde.

Neu für die Öffentlichkeit dürfte folgendes sein, auch wenn nicht klar ist, woher diese Aussage stammt:

Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 94

Über die Genehmigung des Wiederaufnahmeverfahrens schreibt die Autorin:

Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 96

Es ist wirklich schwierig, bei dieser Fülle an Material die Rosinen herauszupicken.

Was der Autorin richtig vorkommt und was sie selbst euphorisch werden lässt, mutet mir persönlich nicht sehr sympathisch an. So widmet sich ein ganzer Abschnitt in dem Buch nun über mediale Erfolge.

Auch als das Wiederaufnahmeverfahren startet ist die Rolle der Autorin offensichtlich wichtig:

Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 98

Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 99

Es ist ein Vorrecht der Erfolgreichen, ihren eigenen Erfolg auch zu thematisieren. Die Freude über Applaus im Gerichtssaal aber irritiert.

 

Das gesamte Verfahren wird auf 1,5 Seiten abgehandelt. Wie schnell hier Vorwürfe an das Gericht in Lob auf den Freispruch übergehen lässt sich nur zeigen, indem der Abschnitt über den Prozess gezeigt wird. Ab Seite 100 schliesst sich schon der Sektempfang zur Feier des Freispruchs an.


Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 99

Die nächsten Kapitel beschäftigen sich mit der Entlassung Ulvi K.s aus der Forensik (ab Seite  105) und über das, was mit Peggy geschah (ab Seite 111). Dabei stellt die Autorin die Rolle der „Unterstützergruppe“ hervor, die eine „erneute Befragung von Peggys Mutter, die Menschen beschimpft, die nach ihrer Tochter suchen“ verlangte. Die Vorwürfe gegen sie werden weitergeführt so zum Beispiel wegen „vielfachen falschen Angaben …, wodurch dann letztendlich Ulvi belastet und als Täter verurteilt werden konnte.“

Im Folgenden wird der Leichenfund thematisiert und damit verbundene Zweifel. Zeugen, die Peggy am Tag nach ihrem Verschwinden in Lichtenberg gesehen haben wollen, werden zitiert. Ebenso die vermeintlichen Sichtungen des Mädchens in der Türkei, die DNA-Trugspur, die in Richtung NSU zeigte, … und wieder Vorwürfe gegen Peggys Mutter:

Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 121

Ist irgendeinem der Leser des Buches oder dieses Blogs klar, was diese immer wiederkehrenden Vorwürfe an die Mutter eines Mordopfers in einer Dokumentation eines Kriminalfalls zu suchen haben?

 

Das Finale des Buchs leiten die Ermittlungen gegen Manuel S. ein, der zwar Ulvi K. belastete, den die Autorin aber wie folgt beschreibt:

Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 124

 

Der ruhige, sympathische Kerl mit Vorliebe für Bier belastet also Ulvi K. und macht damit eine Geschichte rund, die schon seit Herbst 2001 in den Geständnissen von Ulvi K. ihren Anfang nahm. Denn dieser wiederum hatte Manuel S. als Verbringer der Leiche benannt.

Ist dieses positive Leumundszeugnis für Jemanden, der den eigenen Schutzbefohlenen des Mordes belastet, glaubwürdig?

 

Weiter geht es mit der Abhöraktion während der damals noch laufenden Ermittlungen. Von dieser war die Autorin aber auch ihr Mann und viele ihrer Kontakte betroffen.

Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 129


Vielleicht ein schönes Schlusswort für diese Buchkritik. Der geneigte Leser hätte sich sicherlich mehr „knallharte Fakten“ gewünscht.

 

 

 

Fazit

Wir haben uns die Mühe gemacht, den Teil über Peggy Knobloch, zu lesen und zu analysieren.

 

Form und Inhalt des Buches legen nahe, dass es vor der Veröffentlichung keine Redaktion gab:

  • Die Verwendung unterschiedlichster Schriftbilder sowie fehlende Bildbeschreibungen machen die Orientierung schwer.
  • Unklare Kapitelunterteilung erschweren die Orientierung
  • Fehlende Quellenangaben werten die präsentierten Inhalte ab

 

Verprechen des Buchs:

Das Buch sollte als Dokumentation nachweisen, dass in Deutschland systematisch Unschuldige weggesperrt werden. Dieses Ziel wurde unserer Meinung nach nicht erfüllt.

Eine Dokumentation zeichnet sich durch die objektive Gegenüberstellung vollständiger Informationen aus, deren Bewertung aufgrund von nachvollziehbaren Kriterien erfolgt.

  • Die Ichform, in der weite Teile des Buchs erzählt sind, gibt den Inhalten gar keine Chance, neutral präsentiert zu werden. Die Entscheidung für diese Erzählform ist kontraproduktiv.
  • Jemand, der weitgehend vollständige Akteneinsicht hat(te) und der den Mut fasst, Akten in einem Buch zu veröffentlichen, hätte diesen Schritt in aller Konsequenz machen müssen. Akten nicht nur satzweise zu zeigen, mit vollständiger Beschreibung wie Ortangabe, Zeitstempel, Namen. Dieses Stückwerk verwirrt und ist nicht überzeugend. Es hinterlässt Fragezeichen.
  • Mit dem in einem Buch verfügbaren Platz wäre es ein Leichtes gewesen, einzelne Sachverhalte gründlich und vollständig zu beleuchten. Das wurde nicht gemacht, stattdessen ging es im Galopp durch die subjektiv wichtigen Sachverhalte.
  • Das Weglassen von Informationen, die in der Öffentlichkeit bestens bekannt sind, riskiert die Glaubwürdigkeit einer meinungsbildenden „Dokumentation“; wenn nur unerwünschte Informationen weggelassen werden, dann ist der Überzeugungswert gering. Hier wird dem Leser die Intelligenz abgesprochen, auch kritische Sachverhalte einschätzen zu können. Vielmehr soll der Leser im Strudel der Argumente eingesogen werden.
  • Die Bewertungsmaßstäbe der einzelnen Ermittlungsergebnisse und Zeugenaussagen bleiben im Dunkeln; warum manches als glaubwürdig, wieder anderes als falsch bewertet wird ist unklar. So wird es versäumt, klare Nachweise zu führen, warum das eine gilt, das andere nicht. Als gemeinsamer Nenner der Bewertungen ist lediglich die Tonart festzustellen: Belastendes gegen Ulvi K. wird tendenziell negiert, Entlastendes verstärkt wahrgenommen.

 

Die Schwarz-Weiß-Sicht verhindert, dass der Leser das Gefühl einer objektiven Darstellung bekommt. Dabei wäre in diesem Fall eine kritische Auseinandersetzung so leicht gewesen. Die Unschuld Ulvi K.s bzgl. des Mordes an Peggy muss nicht seiner Schuld bzgl. der Missbräuche entgegenstehen.

 

Das Feuerwerk an Vorwürfen gegen Peggys Mutter, ihre Familie, gegen Zeugen, Ermittler, Staatsanwaltschaft, Gutachter, das Gericht usw. ist beeindruckend. Kein einziger dieser Vorwürfe wird zufriedenstellend erläutert und nachgewiesen.

Vieles wirkt unnötig wie die Frage, ob Peggy sich vegetarisch ernährte oder ob ihr Spielfreund von damals Opferrente bezog. Souverän ist anders.

Das Buch ist eine persönliche Abrechnung, eine Art Tagebuch mit dem Wunsch, den Leser auf seine Seite zu ziehen. Das mag gelingen, wenn der Leser schon der Meinung ist, dass der Rechtsstaat zugunsten von wirklichen Tätern Unschuldige verurteilt. Mit einem bereits vorhandenen Misstrauen gegen Behörden könnte die Leichtigkeit, mit der über Ungereimtheiten und Lücken hinweggegangen wird, überzeugend wirken. Jemanden, der den Fall schon kennt, wird die Autorin schwerlich in seiner Einschätzung beeinflussen können. Der, der es ähnlich sieht wie sie, wird sich bestärkt fühlen, die anderen bleiben mit den schon vorhandenen Zweifeln zurück.

Neues, das einen Aha-Effekt erzeugt, gibt es nicht. 95% aller angesprochenen Einzelheiten wurden in den öffentlich verfügbaren Zeitungsartikeln, Pressemitteilungen und Webseiten bereits veröffentlicht.

 

 

Als persönliches Schlusswort möchte ich folgendes anmerken: die Unterstellungen und Anschuldigungen gegen Personen, das nächtliche Verfolgen eines Richters, die Überheblichkeit, mit der eine zu klein empfundene 5€-Spende betrachtet wird, das Feiern einer großen Spende an die Autorin persönlich, die negative Beschreibung eines kindlichen Mordopfers und seiner Lebensumstände, das Negieren bzw. das Beschönigen von sexuellem Missbrauch durch Ulvi K., das abwechselnde opportune Einspannen und Verachten der Medien – solche Dinge sind abstossend. Auch wenn moralisches Empfinden kein Kriterium sein darf, wenn es um eine Buchempfehlung geht, so sind die hier enthaltenen "Informationen" auf weiten Strecken eher einem Internetchat würdig als einem Druckerzeugnis. 


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Liebe Leser,

Die Buchkritik endet hiermit.

Wer bisher durchgehalten hat, dem sei ein großes D A N K E S C H Ö N zugeraunt, in Sperrschrift wohlgemerkt.

Vielleicht mag sich Jemand ein eigenes Bild machen und unserer kritischen Auseinandersetzung widersprechen oder zustimmen? Wir überlegen uns, unser Exemplar des Buches zu verlosen.Dazu müssen wir aber erst die rechtlichen Voraussetzungen eines Gewinnspiels prüfen.

Falls es noch Fragen gibt zu der Buchkritik würden wir uns sehr darüber freuen. Solange das Buch noch in unserem Besitz ist beantworten wir das natürlich gerne.


Der nächste Blogbeitrag wird den Versuch starten, Frau Rödel einige konkrete Fragen zu stellen. Falls Euch da was auf den Nägeln brennt, her damit.