Montag, 5. April 2021

Buchkritik Teil 4: Gudrun Rödel "Weggesperrt" 2021

 

 

Die Soko II und die Tathergangshypothese

 

In einem älteren Blogbeitrag wurden die Soko II und ihre Ermittlungen ab 2002 vorgestellt.

Diese Soko ist ebenfalls Bestandteil des Buches, denn die Soko II war es, unter deren Ermittlungen sich der Fokus auf Ulvi K. lenkte, das Alibi wegbrach und schliesslich die Anklage vorbereitet wurde.

Dass aus Sicht der Autorin diese Soko II nicht gut wegkommt liegt nahe.

Im Winter 2001/2002 stockten die Ermittlungen, neue Ansätze waren nicht da und obwohl sich Ulvi K. in zeitlicher Nähe am Henri-Marteau-Platz aufhielt, dort wo Peggy zuletzt gesehen worden war, hatte dieser ein Alibi. Der Leiter der Soko I Herbert Manhart wurde pensioniert.

Das war also die Gelegenheit, die Soko neu aufzustellen.

Strippenzieher hinter dieser Umgestaltung war der damalige Innenminister Dr. Günther Beckstein. Er setzte Wolfgang Geier als Leiter der Soko II ein.

Über diesen sagt die Autorin folgendes:

 

Unter großem öffentlichen Druck stehend tauschte der damalige Innenminister BECKSTEIN kurzerhand die Soko aus; Chef einer zweiten Sonderkommission Peggy II wird Wolfgang G E I E R, der „große Macher" und „Mann für schwere Fälle", der bereits als Leiter der Soko „Bosporus" sichtbar vor allem in Deutschland lebende Türken ins Visier seiner Ermittlungen nahm; auch Ulvis Vater - ein Türke - passte dabei in sein Konzept.

Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 59

Geier setzte alles daran, um diesen Behinderten - geistig auf dem Stand eines 10-Jährigen - als Täter dingfest zu machen, den Soko 1-Chef Manhardt definitiv als Täter ausgeschlossen hatte. Zunächst war sein Problem, dass er nichts gegen Ulvi vorzubringen hatte.

Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 60

 

 

Frau Rödel stellt selbst die Theorie auf, dass die von Peter Hofmann (der Mitpatient von Ulvi K., der schon im Herbst 2001 der Polizei von einem Mordgeständnis Ulvi K.s berichtete) erzählte „frei erfundene Geschichte“ dem Profiler Alexander Horn als Vorlage für seine Tathergangshypothese diente.

 

Diese Tathergangshypothese bzw. der Umgang mit ihr ist tatsächlich nicht unumstritten. Sollte sie doch einerseits dazu dienen, Ulvi K. in einem Verhör sehr präzise Vorhaltungen machen zu können und andererseits war im späteren Velauf die Existenz dieser Tathergangshypothese dem Gutachter Prof. Dr. Kröber vorenthalten worden – einer der Wiederaufnahmegründe 2013.

 

Interessant ist Folgendes: die Autorin zitiert die Tathergangshypothese nicht im Original sondern verwendet eine Kurzzusammenfassung aus einem Soko-internen Papier, einem „Konzept für die Vernehmung des Ulvi KULAC“. Dieses Konzept geistert seit vielen Jahren im Internet (z.b. hier: http://www.allmystery.de/i/tf2caae_e5ad4c_Tathergangshypothese_Teil_2_1.jpg )

Liegt ihr die ausführliche, begründete Tathergangshypothese nicht vor oder war es bequemer, die Zusammenfassung durch die Soko II zu verwenden?

Darstellung der Tathergangshypothese im Original und im Buch:

Allmystery
Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 61

 

 

Bei der Darstellung im Buch fällt auf, dass hier nicht das Original (linke Seite oben) präsentiert wird sondern eine eigene Abschrift, die weder Nummerierung noch Aufzählungen mitnimmt und die aus dem im Original nachträglich markierten Wort „könnte“ ein „dürfte“ macht. Die Benennung der Soko wurde ebenfalls abgekürzt und die Jahreszahl 02 wurde auf 2002 erweitert.

Selbstredend sind die Abweichungen nicht sinnentfremdend. Sie zeugen aber von mangelnder Sorgfalt und es gibt für den Leser wieder einmal keinen schlüssigen Grund, warum hier nicht die Chance ergriffen wurde, das Original zu zeigen, statt über geänderte Formatierungen ein Original vorzutäuschen.

Man darf davon ausgehen, dass der extra aus München hinzugezogene Fallanalytiker sein Ergebnis nicht in einem einzigen Absatz lieferte und dass er sich bei der Erstellung seiner Analyse nicht damit begnügte, einem übereifrigen Forensikinsassen die Vorlage diktieren zu lassen.

Was die Autorin vollkommen verschweigt ist das, was dem Profiler u.a. zum damaligen Zeitpunkt im Frühjahr 2002 bereits bekannt war:

  • Ulvi K. hatte über einen Zeitraum von mindestens 5 Jahren in Lichtenberg Kinder missbraucht; mindestens 20 Fälle waren der Polizei mittlerweile bekannt, die Dunkelziffer wurde auf mind. 50 geschätzt
  • Die Missbrauchsvorfälle hatten mit exhibitionistischen Handlungen begonnen und hatten sich stetig weiterentwickelt: Kinder sollten ihn anfassen, sich ausziehen und es wurde zuletzt auch Gewalt angewendet
  • Ulvi K. hatte weitreichende sexuelle Erfahrungen mit Erwachsenen (mind. 2 Frauen und mind. 1 Mann)
  • Ulvi K. konsumierte Alkohol und Drogen wie Haschisch und Speed
  • Ihm stand eine Wohnung zur Verfügung
  • Er hatte für Kinder reizvolle Dinge wie eine Playstation
  • Es hatte ein ausgeklügeltes Belohnungs- bzw. Bedrohungsgebilde bestanden, um die Kinder zum Schweigen zu bringen
  • Im Herbst 2001 hatte Ulvi K. sowohl dem erwähnten Peter Hofmann als auch einem Pfleger gegenüber den Mord gestanden, ebenso einer Therapeutin
  • Spätestens ab Herbst 2001 lag den Ermittlern eine mehrfach wiederholte und sehr detailreiche Einlassung vor, wonach Ulvi K. 4 Tage vor der Tat Peggy vergewaltigt haben will und sich dann am Tag ihres Verschwindens bei ihr entschuldigen wollte

Wir wissen natürlich nicht, welche Informationen Herrn Horn darüberhinaus aus den Ermittlungsakten vorlagen .

Seine Schlussfolgerungen hingegen, dass eine gewünschte Entschuldigung eskalierte und in Gewalt gegen den Hals mündete, scheint fundiert. Keinesfalls ist hier erkennbar, dass der Fallanalytiker sich (ausschliesslich) bei Hofmann bediente.

Diese Tathergangshypothese war nun also das Arbeitsgerüst für die Ermittler, die Ulvi K. damit konfrontierten.

Dieser wurde laut Frau Rödel vielfach befragt und oft auch ohne Rechtsbeistand. Was hier als Skandal verkauft wird war eine Absprache zwischen dem damalige Rechtsanwalt Wolfgang Schwemmer und den Ermittlern. Das mag einem nicht richtig vorkommen ist aber eben auch kein Skandal.

 

Das Geständnis

Über zwei Monate später gestand Ulvi K. den Mord an Peggy erstmals.

Tatsächlich gab es hierbei Auffälligkeiten: 

1. Der Blutfleck an der Arbeitsjacke 

Die Arbeitsjacke von Ulvi K. konnte sichergestellt und kriminaltechnisch untersucht werden. Er wies im Bereich der linken Schulter einen auffälligen rotbraunen Fleck auf, der optisch auf einen Blutfleck hindeutete.

Die Autorin veröffentlicht über diese Untersuchungsergebnisse leider nur 1 Satz:




Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 62

Ihre Interpretation dieses Satzes liefert sich gleich mit:



Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 61

Das ist jetzt streng genommen nicht die richtige Übersetzung des Untersuchungsergebnisses. Dennoch bleibt festzuhalten: den Ermittlern lag keine Bestätigung vor, dass an besagtem Kleidungsstück Blut gefunden worden war. 

Gleichwohl hatte vor dem Verhör am 2. Juli 2002 Soko-II-Leiter Geier seine Mitarbeiter genau so unterrichtet. Im Verhör wurde Ulvi K. dieser Blutfleck als Fakt vorgehalten. Die Überrumpelung hatte nicht funktioniert: Ulvi K. blieb standhaft und gestand nicht.

 

2. Freiwillige Rückkehr in den Verhörraum, Vernehmung ohne Tonaufnahme, Vernehmung ohne Rechtsanwalt

Ulvi K. wurde nach dem Verhör zum Parkplatz geführt. Der Anwalt verabschiedete sich. Nach einer letzten Zigarette sollte er in die Forensik zurückgebracht werden. Ulvi K. wollte dann noch etwas sagen, woraufhin er in den Verhörraum gebracht wurde. Die Technik war hier schon abgebaut, der Anwalt nicht erreichbar.
Aber Ulvi K. wollte aussagen und das tat er auch. Gut 1,5 Stunden erzählte er im Detail von dem Mord an Peggy Knobloch

Für die spätere Betreuerin sieht das Ganze so aus:

 Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 62

Die Andeutung "was sich danach genau ereignete... wissen nur die anwesenden Personen..." verfestigt den Eindruck, dass hier etwas Falsches ablief. Ein Geständnis unter Druck? Eine gezielte Falschdokumentation der Ermittler, um den Geistig Behinderten um jeden Preis als Mörder zu ettiketieren?

In Bezug auf den letzten Abschnitt ist ein Vorwurf herauszuhören, oder warum sollte die Autorin „gar erst ein Vierteljahr“ unterstreichen? Dauerte ihr die Bekanntgabe des Tatverdächtigen zu lange? Wäre eine sofortige Bekanntgabe des Geständnisses besser gewesen?

Tatsächlich gab es in der Berichterstattung eine Pause von ca. 3 Monaten. So blieben die Tatrekonstruktionen und Suchmaßnahmen im Juli 2002 nicht unentdeckt, darüber berichtete die Presse ausführlich. Aber erst im Oktober wurde die Lösung des Falles bekanntgegeben. So lange hatte die Staatsanwaltschaft offenbar benötigt, um in aller Sorgfalt die Ermittlungsergebnisse anhand des Geständnisses zu überprüfen und psychologische Gutachten zu Ulvi K. einzuholen. Zum Zeitpunkt der Anklageerhebung hatte Ulvi K. sein Geständnis schon widerrufen.

Für Frau Rödel ist das alles ein Skandal:

 



Quelle: Weggesperrt, Gudrun Rödel (2021) Seite 63

Dabei übersieht die Autorin geflissentlich, dass sich eine Ähnlichkeit von Tathergangshypothese und geschilderter Tat auch durch die professionelle Analyse und statistischen Mustern ergeben kann. Herr Horn kann auch einfach nur richtig gelegen haben mit seiner Tathergangshypothese.

Hier hätte der Leser sich eine detailliertere Ausarbeitung gewünscht. Eine Gegenüberstellung der Merkmale der ausführlichen Tathergangshypothese mit den Geständnissen. Wo stimmen sie ein, was sind die Abweichungen? Der Leser kann hier nur den Andeutungen folgen oder skeptisch sein.

 

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